Frage: Jene Menschen, die sich durch gute Taten und umfassende Güte auszeichnen, die lobenswerte Charaktereigenschaften besitzen, die allen Geschöpfen Liebe und Wohlwollen erweisen, die sich der Armen annehmen und für den allgemeinen Frieden arbeiten - brauchen auch sie noch die göttlichen Lehren, von denen sie ja glauben, unabhängig zu sein? Was ist die Stufe dieser Menschen?
Antwort: Wisse, daß solche Taten, solche Bemühungen und Worte vorbildlich und anerkennenswert sind und der Menschheit zur Ehre gereichen. Aber diese Taten allein genügen nicht; sie sind wie ein Körper von größter Lieblichkeit, aber ohne Geist. Nein, das, was die Ursache des ewigen Lebens ist, der unvergänglichen Ehre, der vollkommenen Erleuchtung, der wahren Erlösung und des Glücks, ist zuallererst die Erkenntnis Gottes. Es ist bekannt, daß die Erkenntnis Gottes über jeder anderen Erkenntnis steht und die größte Zierde der menschlichen Welt ist. Denn in der bestehenden Kenntnis der Wirklichkeit der Dinge liegt materieller Vorteil, und durch sie macht die äußere Zivilisation Fortschritte; aber die Erkenntnis Gottes ist die Ursache geistigen Fortschritts und der Anziehung, und durch sie wird Erkenntnis der Wahrheit, Erhebung der Menschheit, göttliche Zivilisation, Makellosigkeit der Tugend und Erleuchtung erlangt.
An zweiter Stelle kommt die Liebe Gottes, deren Licht in der Lampe der Herzen jener leuchtet, die Gott erkannt haben; ihre glänzenden Strahlen erhellen den Horizont und geben dem Menschen das Leben des Königreichs. Die Frucht des menschlichen Daseins ist in Wahrheit die Liebe Gottes, denn diese Liebe ist der Geist des Lebens und die ewige Gnade. Bestände die Liebe Gottes nicht, wäre die abhängige Welt in Dunkel gehüllt; bestände die Liebe Gottes nicht, wären die Herzen der Menschen tot und der Lebensgefühle beraubt; bestände die Liebe Gottes nicht, wäre die geistige Verbindung verloren; bestände die Liebe Gottes nicht, würden Ost und West sich nicht wie zwei Liebende umarmen; bestände die Liebe Gottes nicht, würde das Licht der Einheit die Menschheit nicht erleuchten; bestände die Liebe Gottes nicht, würden Spaltung und Uneinigkeit nicht in Brüderlichkeit verwandelt; bestände die Liebe Gottes nicht, würde Gleichgültigkeit nicht in Zuneigung enden; bestände die Liebe Gottes nicht, würde der Fremde nicht zum Freunde werden. Die Liebe der menschlichen Welt leuchtet aus der Liebe Gottes hervor und erscheint durch die Gnade und Güte Gottes.
Es ist klar, daß die Wirklichkeit der Menschheit verschiedengeartet ist, daß Meinungen auseinandergehen und Gesinnungen sich unterscheiden; und dieser Unterschied der Meinungen und Gedanken, der Denkfähigkeit und Gesinnung unter den verschiedenen Menschen entspringt unerläßlicher Notwendigkeit; denn die Unterschiede in den Stufen des Daseins der Geschöpfe sind ein Erfordernis des Daseins, das sich in unendlich vielen Formen entfaltet. Darum brauchen wir eine umfassende Kraft, die die Gesinnungen, Meinungen und Gedanken aller beherrschen kann und derzufolge diese Spaltungen keinen Einfluß mehr haben und jeder einzelne unter den Einfluß der Einheit der Welt der Menschheit gebracht werden kann. Es ist klar und offensichtlich, daß diese größte Macht in der menschlichen Welt die Liebe Gottes ist. Sie bringt die verschiedenen Gruppen unter den Schutz des Zeltes der Liebe und schenkt den gegnerischen und feindlichen Völkern und Familien die größte Liebe und Eintracht.
Sieh, wie viele Nationen, Rassen, Familien und Stämme nach dem Erscheinen Christi durch die Macht der Liebe Gottes unter den Schutz des Wortes Gottes gekommen sind: Die Spaltungen und Uneinigkeiten von tausend Jahren wurden völlig überwunden und aufgehoben. Die Gedanken an Rasse und Vaterland verschwanden ganz, die Einheit der Seelen und Leben entstand, und alle wurden wirkliche, geistige Christen.¹
¹ Gemeint ist die erste Zeit des Christentums;
Die dritte Tugend der Menschheit ist der gute Wille, der die Grundlage guter Taten ist. Manche Philosophen haben der Absicht den Vorzug vor der Tat gegeben, denn der gute Wille ist reines Licht; er ist geläutert und erhaben über die Unreinheiten der selbstsucht, der Feindseligkeit und des Betruges. Nun mag es sein, daß jemand eine Tat begeht, die dem Anschein nach rechtschaffen, tatsächlich aber von Habsucht diktiert ist. Zum Beispiel zieht ein Metzger ein Schaf groß und behütet es; aber diese rechtliche Tat ist durch den Wunsch, Geld zu verdienen, bestimmt, und der Zweck dieser Pflege ist das Schlachten des armen Schafes. Wie viele gerechte Taten werden von Habsucht diktiert! Aber der gute Wille ist über solche Unreinheiten geheiligt.
Kurz, wenn sich zur Erkenntnis Gottes die Liebe Gottes gesellt, sowie Anziehung, Begeisterung und guter Wille, dann ist eine rechtschaffene Tat vollkommen und vollständig. Sonst aber ist eine gute Tat, so anerkennenswert sie auch sein mag, doch unvollkommen, wenn sie nicht von der Erkenntnis Gottes, der Liebe Gottes und einer lauteren Absicht unterstützt wird. Zum Beispiel muß das Dasein des Menschen alle Vollkommenheiten besitzen, um vollendet zu sein. Das Sehen ist außerordentlich wertvoll und kostbar, aber es muß durch das Gehör unterstützt werden; das Hören ist sehr hochgeschätzt, aber es muß von der Kraft der Sprache Hilfe haben; die Gabe der Sprache ist überaus willkommen, aber sie muß von der Kraft des Verstandes unterstützt werden, und so fort. Das gleiche gilt von den anderen Kräften, Organen und Gliedern des Menschen; erst wenn alle diese Kräfte, diese Sinne, diese Organe und diese Teile vorhanden sind, ist er vollkommen.
Nun stoßen wir gegenwärtig auf Menschen in der Welt, die wahrhaftig das allgemeine Wohl wünschen und sich mit allen ihren Kräften dem Schutz der Unterdrückten und der Hilfe für die Armen widmen; sie sind voll Begeisterung für den Frieden und das allgemeine Wohlergehen. Obwohl sie von dieser Warte aus vollkommen sein mögen, so sind sie, wenn ihnen die Erkenntnis und Liebe Gottes fehlt, doch unvollkommen.
Der Arzt Galenus schrieb in seinem Buch, in dem er die Abhandlung Platos über den Staat kommentiert, daß die grundlegenden Prinzipien der Religion einen großen Einfluß auf die vollkommene Zivilisation haben, weil »die Masse des Volkes den Zusammenhang erklärender Worte nicht verstehen kann; so braucht es symbolische Worte, die Belohnung und Strafe in der anderen Welt in Aussicht stellen; und das, was die Wahrheit dieser Behauptung beweist,« so sagt er, »ist, daß wir heute ein Volk, genannt die Christen, sehen, die an Belohnung und Bestrafung glauben; und diese Sekte legt wundervolle Taten an den Tag, die denen gleichen, die ein wahrer Philosoph vollbringt. So sehen wir alle deutlich, daß sie den Tod nicht fürchten und daß sie nichts erwarten und wollen als Gerechtigkeit und Unparteilichkeit; sie werden als wahre Philosophen angesehen.«
Nun bedenke, wie groß die Aufrichtigkeit, die Begeisterung, die geistige Haltung, die Verpflichtung zu freundschaftlicher Gesinnung und die guten Taten der Anhänger Christi gewesen sein mußten, daß Galenus, der Arzt und Philosoph, obwohl er selbst kein Christ war, doch Zeugnis über den guten Charakter und die Vollkommenheiten dieser Menschen ablegte, wobei er so weit ging, sie wahre Philosophen zu nennen. Diese Vorzüge und Tugenden wurden nicht nur durch gute Taten erlangt, denn wenn Tugend nur eine Sache des Erlangens und Weitergebens des Guten wäre, warum preisen wir dann nicht diese Lampe, die angezündet ist und das Haus erleuchtet, was zweifellos eine Wohltat ist? Die Sonne ist für alle Geschöpfe auf der Erde der Anlaß, zu wachsen, und durch ihre Wärme und ihr Licht schenkt sie Entwicklung und Entfaltung. Gibt es eine größere Wohltat als diese? Trotzdem ist diese Gabe, da sie nicht dem guten Willen und der Liebe und Erkenntnis Gottes entspringt, unvollkommen.
Wenn dagegen ein Mensch einem anderen einen Becher Wasser reicht, so ist ihm dieser erkenntlich und dankt ihm. Ohne nachzudenken würde man sagen: Diese Sonne, die der Welt Licht gibt, diese höchste Gnade, die in ihr offenbar ist, sollte verehrt und gepriesen werden; warum sollten wir der Sonne für ihre Gabe nicht dankbar und erkenntlich sein, wenn wir einen Menschen loben, der eine einfache Tat der Freundlichkeit vollbringt? Wenn wir aber nach der Wahrheit forschen, sehen wir, daß diese unscheinbare Freundlichkeit jenes Menschen auf bewußt existierenden Gefühlen beruht; darum ist sie des Lobes wert. Dagegen sind das Licht und die Wärme der Sonne nicht auf Gefühle und Bewußtheit zurückzuführen, weshalb sie nicht des Lobes und Preises wert sind und keine Erkenntlichkeit oder Dankbarkeit verdienen.
Ebenso ist der Mensch, der eine gute Tat vollbringt, wohl lobenswert, wenn sie aber nicht der Liebe und Erkenntnis Gottes entspringt, ist sie unvollkommen. Überdies wirst du feststellen, wenn du vorurteilslos nachdenkst, daß diese guten Taten anderer Menschen, die Gott nicht kennen, grundsätzlich auch durch die Lehren Gottes veranlaßt sind; das heißt, daß die früheren Propheten die Menschen dazu brachten, solche Taten zu vollbringen, ihnen deren Vorteile erklärten und ihre segensreichen Auswirkungen darlegten; diese Lehren haben sich dann unter den Menschen verbreitet, nacheinander einen um den anderen erreicht und ihre Herzen zu diesen Vollkommenheiten hingezogen. Als die Menschen sahen, daß solche Taten als wertvoll erklärt und zur Ursache von Freude und Glück für die Menschheit wurden, richteten sie sich danach.
Darum kommen auch diese Taten aus den Lehren Gottes. Aber man braucht gerechtes Verhalten, um das zu sehen, keine Auseinandersetzung und Wortstreiterei. Gelobt sei Gott! Du warst in Persien und hast gesehen, wie die Perser durch den heiligen Odem Bahá'u'lláhs wohlwollend zu anderen Menschen geworden sind. Wenn sie früher mit jemand einer anderen Rasse zusammenkamen, belästigten sie ihn und waren mit äußerster Feindschaft, mit Haß und Übelwollen erfüllt; sie gingen so weit, mit Schmutz nach ihm zu werfen. Sie verbrannten das Evangelium und das Alte Testament, und wenn ihre Hände durch Berührung dieser Bücher verunreinigt wurden, wuschen sie sie. Jetzt aber sprechen und singen die meisten von ihnen in ihren Versammlungen und Zusammenkünften, wenn sich die Gelegenheit bietet, aus dem Inhalt dieser zwei Bücher und erläutern ihre auserlesenen Lehren. Sie erzeigen ihren Feinden Gastfreundschaft. Diese blutdürstigen Wölfe wurden so zahm wie Gazellen auf den Ebenen der Liebe Gottes. Du hast ihre Sitten und Gebräuche gesehen und hast sie von der Lebensart der früheren Perser erzählen hören. Diese Wandlung der Sitten, diese Vervollkommnung des Benehmens und der Worte, sind sie anders möglich denn durch die Liebe Gottes? Nein, im Namen Gottes! Wenn wir mit Hilfe der Wissenschaft und Erkenntnis diese Sitten und Gebräuche einführen wollten, würde es sicherlich tausend Jahre brauchen, und dann hätten sie noch nicht die Massen durchdrungen.
Aber jetzt wurden sie dank der Liebe Gottes mit größter Leichtigkeit erreicht.
So seid ermahnt, o ihr, die ihr Einsicht besitzt!
aus Abdu'l-Baha, Beantwortete Fragen