Wenn wir das Dasein mit dem erkennenden Auge betrachten, bemerken wir, daß es auf drei Kategorien beschränkt ist, das heißt, als Ganzes gehört es entweder zum Mineral-, Pflanzen- oder Tierreich; jede dieser drei Klassen hat ihre Arten. Der Mensch ist die höchste Gattung, weil er im Besitz der Vollkommenheiten aller Klassen ist, denn er hat einen Körper, der wächst und wahrnimmt. Aber außer den Vollkommenheiten des Minerals, der Pflanze und des Tiers besitzt er noch eine besondere Auszeichnung, die den anderen Daseinsformen fehlt, nämlich die intelligiblen Vollkommenheiten. Darum ist der Mensch das edelste aller Geschöpfe.
Der Mensch steht auf der höchsten Stufe der Materie und am Anfang der Geistigkeit, das heißt, er ist der Abschluß der Unvollkommenheit und der Anbruch der Vollkommenheit. Er steht im letzten Grad der Dunkelheit und am Anfang des Lichts. Darum wurde gesagt, daß die Stufe des Menschen das Ende der Nacht und der Beginn des Tages sei, was bedeutet, daß er der Inbegriff aller Grade der Unvollkommenheit ist und daß er die Grade der Vollkommenheit besitzt. Er hat die tierische Seite so gut wie die engelgleiche Seite; und das Ziel eines Erziehers ist, die menschlichen Seelen so zu bilden, daß ihre engelhafte Seite ihre tierische überwinden kann. Wenn dann die göttliche Kraft im Menschen, die seine wesentliche Vollkommenheit ist, die satanische Kraft, die absolute Unvollkommenheit ist, überwindet, wird er zum vortrefflichsten aller Geschöpfe; siegt aber die satanische Kraft über die göttliche, so sinkt der Mensch zum niedrigsten der Geschöpfe herab. Darum ist er der Abschluß der Unvollkommenheit und der Anbruch der Vollkommenheit. Bei keiner anderen Gattung in der Welt des Daseins besteht so ein Unterschied und Widerspruch, solche Gegensätzlichkeit und Verschiedenheit wie bei der Gattung des Menschen.
So war der Widerschein des göttlichen Lichtes in einem Menschen wie Christus; sieh, wie geliebt und geehrt Er ist! Gleichzeitig sehen wir aber auch den Menschen einen Stein, einen Lehmklumpen oder einen Baum anbeten: Wie tief steht er, als Gegenstand seiner Verehrung die niedrigste Seinsform, nämlich einen Stein oder Lehm ohne Geist, einen Berg, einen Wald oder einen Baum zu nehmen. Gibt es eine größere Schande für einen Menschen, als die niedrigsten Daseinsformen anzubeten? So ist auch die Erkenntnis eine Eigenschaft des Menschen - ebenso Unwissenheit; Aufrichtigkeit ist eine seiner Eigenschaften - aber auch Falschheit; Treue steht neben Verrat, Gerechtigkeit neben Ungerechtigkeit und so weiter. Kurz, alle Vollkommenheiten und Tugenden, wie auch alle Laster, sind Eigenschaften des Menschen. Betrachte ebenso die Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen. Christus lebte in menschlicher Gestalt - aber auch Kaiphas; Moses und Pharao, Abel und Kain, Bahá'u'lláh und Yahyá, alle waren Menschen.¹
¹ Mírzá Yahyá (Subh-i-Azal), Halbbruder Bahá'u'lláhs und Sein unversöhnlichster Feind.
Es heißt, daß der Mensch der höchste Vertreter Gottes ist; er ist auch das Buch der Schöpfung, weil alle Geheimnisse des Daseins in ihm beschlossen sind. Wenn er in den Schatten des wahren Erziehers tritt und richtig erzogen wird, wird er zum innersten Wesen der Wesen, zum Licht der Lichter, zum Geist der Geister; er wird zum Mittelpunkt der göttlichen Erscheinungen, zur Quelle geistiger Eigenschaften, zum Dämmerungsort himmlischer Lichter und zum Empfänger göttlicher Eingebungen. Bleibt er dieser Erziehung fern wird er zur Offenbarung teuflischer Eigenschaften, zum Inbegriff tierischer Laster und zur Quelle aller finsteren Zustände.
Der Zweck der Sendung der Propheten ist die Erziehung der Menschen, damit dieses Stück Kohle zum Diamanten und dieser unfruchtbare Baum veredelt werde und die süßesten und köstlichsten Früchte hervorbringe. Wenn der Mensch den edelsten Rang in der menschlichen Welt erreicht, kann er weiteren Fortschritt in den Erscheinungsweisen der Vollkommenheit, nicht aber in der Stufe, machen; denn die Stufen sind begrenzt, die göttlichen Vollkommenheiten aber sind ohne Ende.
Sowohl vor als auch nach dem Ablegen dieser irdischen Gestalt gibt es in der Vollkommenheit Fortschritt, aber nicht in der Stufe. So finden die Daseinsformen im vollkommenen Menschen ihre Vollendung. Es gibt kein höheres Geschöpf als den vollkommenen Menschen. Aber der Mensch kann, wenn er diese Stufe erreicht hat, in der Vollkommenheit noch Fortschritte machen, nicht aber in der Stufe, denn eine höhere als die des vollkommenen Menschen - die für ihn erreichbar wäre - gibt es nicht. Auf der Stufe der Menschheit allein macht er Fortschritte, denn die menschlichen Vollkommenheiten sind unbegrenzt. Wie gelehrt zum Beispiel ein Mensch auch sein mag, wir können uns immer einen noch gelehrteren vorstellen.
Weil die menschlichen Vollkommenheiten unbegrenzt sind, darum kann der Mensch auch nach Verlassen dieser Welt Fortschritte in den Vollkommenheiten machen.
aus Abdu'l-Baha, Beantwortete Fragen