Frage: Wie hängt die Wirklichkeit Gottes mit den göttlichen Aufgangsorten und den Stätten der göttlichen Morgendämmerung zusammen?
Antwort: Wisse, daß die Wirklichkeit Gottes, oder das wahre Wesen der Einheit, absolute Reinheit und vollkommene Heiligkeit ist, das heißt, sie ist geheiligt und erhaben über jeden Lobpreis. Alle die höchsten Kennzeichnungen der Daseinsstufen entstammen nur der Einbildungskraft, wenn sie auf die Stufe des Göttlichen bezogen werden. Sie ist unsichtbar, unfaßbar, unerreichbar, ein reines Sein, das nicht beschrieben werden kann; denn das göttliche Sein umfaßt alle Dinge. Das Umfassende ist fürwahr größer als das Umfaßte, und das Umfaßte kann nicht das Umfassende ermessen noch seine Wirklichkeit begreifen. Wie weit sich der Verstand auch entwickeln mag, wenn er auch die endgültige Stufe des Begreifens, die Grenze des Verstehens erreichte, er erkennt die göttlichen Zeichen und Eigenschaften nur in der Welt der Schöpfung, nicht in der Welt Gottes. Denn das Wesen und die Kennzeichen des Herrn der Einheit sind auf den Höhen der Heiligkeit, und für die Verstandes- und Vorstellungskräfte gibt es keinen Weg, dieser Stätte nahe zu kommen. »Der Weg ist verschlossen und das Suchen ist verboten.«¹
¹ Ein Hadíth - aus der im 8. Jahrhundert n.Chr. zusammengestellten Sammlung von Aussprüchen und Lehren Muhammads; dem Qur'án fast gleichgestellt.
Es ist klar, daß das menschliche Verständnis eine Eigenschaft des menschlichen Daseins ist und daß der Mensch ein Zeichen Gottes ist; wie könnte die Eigenschaft des Zeichens den Schöpfer des Zeichens umfassen? Das will sagen, wie könnte das Verständnis, das eine Eigenschaft des menschlichen Seins ist, Gott begreifen? Daher ist die Wirklichkeit Gottes vor aller Fassungskraft verborgen und vor dem Verstehen der ganzen Menschheit verhüllt. Es ist völlig unmöglich, zu jener Höhe vorzudringen. Wir sehen, daß alles Tieferstehende nicht fähig ist, die Wirklichkeit des Höherstehenden zu begreifen. So können Stein, Lehm und Baum, so sehr sie sich auch entwickeln mögen, nicht die Wirklichkeit des Menschen begreifen, und obwohl auch sie alle erschaffen wurden, können sie sich die Kräfte des Sehens, Hörens und der anderen Sinne nicht vorstellen. Wie könnte also der erschaffene Mensch die Wirklichkeit des reinen Seins des Schöpfers verstehen? Zu dieser Ebene gibt es keinen Weg für das Verständnis; keine Erklärung genügt, sie zu begreifen, und keine Macht ist da, sie zu deuten. Was hat ein Stäubchen mit der reinen Welt zu tun, und welche Beziehung gibt es zwischen dem begrenzten Verstand und dem unbegrenzten Reich? Der Verstand ist unfähig, Gott zu begreifen, und die Seelen werden verwirrt, wenn sie Ihn verständlich machen wollen. »Die Augen sehen Ihn nicht, aber Er sieht die Augen. Er ist der Allwissende, der Allkundige.«¹
¹ Qur'án 6:103
Für diese Seinsebene ist darum jede Feststellung und Erklärung mangelhaft, jedes Lob und jede Beschreibung sind unwürdig, jeder Begriff ist inhaltslos und jedes Nachdenken müßig. Doch gibt es für diesen innersten Kern des Geistes, für diese Wirklichkeit aller Wirklichkeiten, für dieses Geheimnis aller Geheimnisse Widerspiegelungen, Morgenröten, Erscheinungen und Ausstrahlungen in der erschaffenen Welt. Die Stätte der Morgendämmerung dieses Glanzes, der Ort dieser Widerspiegelungen und die Erscheinung dieser Offenbarungen sind die heiligen Aufgangsorte, die weltumfassenden Wirklichkeiten und die göttlichen Wesen, die die wahren Spiegel des geheiligten Seins Gottes sind. Alle Vollkommenheiten, die Gnadengaben und Herrlichkeiten, die von Gott kommen, sind in der Wirklichkeit der heiligen Offenbarer sichtbar und offenkundig, wie die Sonne, die sich in einem reinen, geschliffenen Spiegel mit all ihrer Vollkommenheit und Lichtesfülle widerspiegelt. Wenn gesagt wird, daß die Spiegel die Offenbarungen der Sonne und die Dämmerungsorte des aufgehenden Gestirns seien, bedeutet das nicht, daß die Sonne von der Höhe ihrer Heiligkeit herabgestiegen und im Spiegel verkörpert sei oder daß die unbegrenzte Wirklichkeit auf diesen Erscheinungsort beschränkt sei. Gott behüte! Das ist der Glaube der Anhänger des Anthropomorphismus.¹ Nein, vielmehr beziehen sich alle Lobpreisungen, Beschreibungen und Verherrlichungen auf die heiligen Offenbarer. Das heißt, alle Beschreibungen, Eigenschaften, Namen und Kennzeichnungen, die wir erwähnen, weisen auf die göttlichen Offenbarer; denn da niemand zur Wirklichkeit des Wesens Gottes gelangt ist, kann sie niemand beschreiben, erklären, preisen oder verherrlichen. Was also die menschliche Wirklichkeit von den Namen, Eigenschaften und Vollkommenheiten Gottes weiß, entdeckt und versteht, bezieht sich auf diese heiligen Offenbarer. Es gibt keinen Zugang zu etwas anderem: »Der Weg ist verschlossen und das Suchen ist verboten.«
¹ Vermenschlichung Gottes.
Trotzdem sprechen wir von den Namen und Eigenschaften der Wirklichkeit Gottes, und wir preisen Ihn, indem Wir Ihm Augen, Ohren, Macht, Leben und Wissen zuschreiben. Wir bejahen diese Namen und Eigenschaften, nicht um die Vollkommenheiten Gottes zu beweisen, sondern um zu verneinen, daß Er Unvollkommenheiten haben könnte. Wenn wir die bestehende Welt betrachten, sehen wir, daß Unwissenheit Unvollkommenheit und Erkenntnis Vollkommenheit ist; darum sagen wir, daß das geheiligte Wesen Gottes Weisheit ist. Schwäche ist Unvollkommenheit und Kraft ist Vollkommenheit, folglich sagen wir, daß das geheiligte Wesen Gottes der Gipfel der Macht ist. Es ist nicht so, daß wir Sein Wissen, Sein Sehen, Seine Macht und Sein Leben begreifen könnten, denn das steht weit über unserem Verständnis. Die wesenhaften Namen und Eigenschaften Gottes sind identisch mit Seinem innersten Wesen, und dieses ist erhaben über alle Fassungskraft. Wenn die Eigenschaften nicht mit dem Wesen identisch wären, müßte es eine Vielzahl von Präexistenzen geben, und Unterschiede zwischen den Eigenschaften und dem Wesen müßten auch bestehen: Folglich würde, da ein früheres Dasein zwangsläufig ist, die Aufeinanderfolge von Präexistenzen unendlich werden. Dies wäre ein offensichtlicher Irrtum.
Alle diese Eigenschaften, Namen, Verherrlichungen und Lobpreisungen beziehen sich also auf die Träger der Offenbarung; und alles, was wir uns über diese hinaus vorstellen und ausdenken, ist bloße Einbildung, denn wir haben keine Mittel, das Unsichtbare und Unzugängliche zu begreifen. Darum wurde gesagt: »Alles, was ihr in euren scharfsinnigen geistigen Bildwerken mit Hilfe der Selbsttäuschung eurer Einbildungskraft unterschieden habt, ist nur eine Schöpfung gleich euch und fällt auf euch zurück.«¹ Es ist klar, daß, wenn wir uns die Wirklichkeit Gottes vorstellen wollen, diese Einbildung das Umfaßte ist und wir das Umfassende sind, und es ist gewiß, daß das Umfassende größer als das Umfaßte ist. Wenn wir uns eine göttliche Wirklichkeit außerhalb der heiligen Offenbarer vorstellen, ist es daher sicher und offenkundig, daß es bloße Einbildung ist; denn es gibt keinen Weg, der Wirklichkeit Gottes näherzukommen, der uns nicht verschlossen wäre, und alles, was wir uns vorstellen, ist nichts als Vermutung.
¹ Aus einem Hadith.
Überlege, daß verschiedene Völker der Welt ihren Einbildungen nachhängen und wie Götzendiener ihre eigenen Gedanken und Mutmaßungen anbeten. Sie sind sich dessen nicht bewußt; sie halten ihre Vorstellungen für die Wirklichkeit, die fern von jedem Begreifen und geläutert von allen Beschreibungen ist. Sie betrachten sich selbst als das Volk der Einheit und die anderen als Götzendiener; Götzenbilder haben aber wenigstens eine stoffliche Existenz, während die Bilder der menschlichen Gedanken und Vorstellungen nur Einbildungen sind und nicht einmal im Stofflichen bestehen. »So seid gewarnt, die ihr Einsicht besitzt!«
Wisse, daß die vollkommenen Eigenschaften, das Leuchten der göttlichen Gnadengaben und das Licht der Eingebung in allen heiligen Offenbarern sichtbar und offenkundig sind. Das herrliche Wort Gottes aber, Christus, und der Größte Name, Bahá'u'lláh, sind Offenbarungen und Zeichen, die jenseits aller Einbildungskraft stehen; denn Sie besitzen alle Vollkommenheiten der früheren Offenbarer und darüber hinaus noch weitere, die die anderen Offenbarer von Ihnen abhängig machen. So waren alle Propheten Israels der Mittelpunkt von Eingebungen, und auch Christus empfing Erleuchtung; welch großer Unterschied besteht aber zwischen der göttlichen Eingebung des Wortes Gottes und den Offenbarungen Jesajas, Jeremias und Elias!
Bedenke, daß das Licht der Ausdruck von Schwingungen ätherischen Stoffes ist; diese Schwingungen treffen auf die Nerven des Auges und dadurch entsteht das Sehen. Das Licht der Lampe sehen wir infolge der Schwingungen ätherischen Stoffes, und ebenso das Licht der Sonne, aber welch ein Unterschied besteht zwischen dem Licht der Sonne und dem der Sterne und der Lampe!
Der menschliche Geist zeigt und offenbart sich auf der Stufe des Embryos und auch auf der der Kindheit und Reife, und er glänzt und ist offenkundig auf der Stufe der Vollkommenheit. Der Geist ist derselbe, aber auf der Stufe des Embryos fehlen ihm die Kräfte des Sehens und Hörens. Im Zustand der Reife und Vollendung zeigen sie sich in größter Helle und Pracht. In gleicher Weise entfalten sich aus dem Samen am Anfang Blätter, in denen sich der Geist der Pflanze zeigt; im Zustand der Frucht offenbart sich derselbe Geist, das heißt, die Kraft des Wachstums erscheint in höchster Vollendung. Welch ein Unterschied besteht aber zwischen der Stufe der Blätter und der der Früchte! Denn aus der Frucht entfalten sich hunderttausend Blätter, und doch wachsen und entwickeln sie sich durch denselben Geist der Pflanze. Beachte den Unterschied zwischen den Tugenden und Vollkommenheiten Christi, der Herrlichkeit und dem Glanz Bahá'u'lláhs einerseits, und den Eigenschaften der Propheten Israels, wie Hesekiel oder Samuel, andererseits. Alle waren Offenbarer göttlicher Ergebung, aber zwischen ihnen besteht ein unendlicher Unterschied.
aus Abdu'l-Baha, Beantwortete Fragen