Wisse, daß die heiligen Offenbarer, wenn auch die Grade ihrer Vollkommenheit unendlich sind, allgemein gesprochen, nur drei Seinsweisen haben. Die erste ist die körperliche, die zweite die menschliche, welche die der mit Vernunft begabten Seele ist, und die dritte die der göttlichen Erscheinung und des himmlischen Glanzes.
Die körperliche Erscheinungsform ist erschaffen; sie ist aus Elementen zusammengesetzt, und notwendigerweise folgt jeder zusammensetzung eine Auflösung. Es ist nicht möglich, den Zerfall einer Zusammensetzung zu verhindern.
Die zweite Stufe ist die der mit Vernunft begabten Seele, die die menschliche Wirklichkeit darstellt; auch diese ist erschaffen, und die heiligen Offenbarer haben sie mit allen menschlichen Geschöpfen gemein.
Wisse, daß die menschliche Seele erschaffen wurde, obwohl sie seit undenkbar langen Zeiten auf der Erde lebt. Da sie ein göttliches Zeichen ist, ist sie, einmal ins Leben gerufen, unvergänglich. Der Menschengeist hat einen Anfang, aber kein Ende; er lebt in alle Ewigkeit. Auch die auf der Erde lebenden Arten sind erschaffen, denn es steht fest, daß es eine Zeit gab, in der diese Arten nicht auf der Erdoberfläche lebten. Nicht einmal die Erde hat immer bestanden, nur die Welt des Daseins ist von jeher dagewesen, denn das Weltall ist nicht auf diese Erdkugel beschränkt. Damit soll gesagt werden, daß menschliche Seelen, obwohl sie erschaffen sind, doch unsterblich, unvergänglich und ewig sind. Denn die Welt des Stoffes ist die Welt der Unvollkommenheit in bezug auf den Menschen, und die menschliche Welt ist die der Vollkommenheit verglichen mit der Welt des Stoffes. Wenn die Unvollkommenheit zur Stufe der Vollkommenheit aufsteigt, wird sie unvergänglich.¹ Dies ist ein Beispiel, dessen Bedeutung du verstehen mußt.
¹ d.h. im Reich des Menschen, wo der Geist allein Unsterblichkeit offenbart.
Die dritte Stufe ist die der göttlichen Erscheinung und des himmlischen Glanzes; sie ist das Wort Gottes, die ewige Gnade, der Heilige Geist. Sie hat keinen Anfang und kein Ende, denn das gibt es nur in der erschaffenen und nicht in der göttlichen Welt. Für Gott ist Ende und Anfang dasselbe. So ist das Rechnen nach Tagen, Wochen, Monaten und Jahren, das Gestern und Heute mit der Erde verbunden, aber in der Sonne gibt es so etwas nicht - sie kennt weder Gestern, Heute und Morgen, noch Monate oder Jahre - alle sind gleich. Ebenso ist das Wort Gottes von allen diesen Bedingungen geläutert und frei von den Grenzen, den Gesetzen und Beschränkungen der bedingten Welt. Die Wirklichkeit des Prophetentums, die das Wort Gottes und die vollkommene Offenbarung ist, hatte deshalb keinen Anfang und wird kein Ende haben; ihr Ursprung ist verschieden von allen anderen und dem Aufgang der Sonne zu vergleichen. Zum Beispiel ging sie im Zeichen Christi mit größter Pracht und Herrlichkeit auf, und diese Wirklichkeit ist ewig und unvergänglich. Sieh doch, wie viele welterobernde Könige gelebt haben, wie viele Staatsmänner und Fürsten, mächtige Führer - alle sind sie dahingegangen. Aber die Lüfte Christi wehen immer noch, Sein Licht leuchtet, Seine Melodie ertönt, noch immer flattert Sein Banner, Seine Heerscharen kämpfen, Seine himmlische Stimme erklingt in süßem Wohlklang, Seine Wolken senden noch immer belebenden Regen, Seine Blitze flammen, Seine Offenbarung ist hell und glanzvoll, Seine Herrlichkeit strahlt und leuchtet immer noch. Ebenso ist es bei jenen Seelen, die unter Seinem Schutze stehen und sich von Seinem Lichte erleuchten lassen.
Es ist also klar, daß den Offenbarern drei Seinsweisen eignen: Die körperliche Stufe, die der mit Vernunft begabten Seele und die Stufe der göttlichen Erscheinung und himmlischen Herrlichkeit. Die körperliche Erscheinungsform wird sicher vergehen, aber die der mit Vernunft begabten Seele hat, obwohl einen Anfang, kein Ende; ihr wurde ewiges Leben geschenkt. Und die heilige Wirklichkeit, von der Christus sagt: »Der Vater ist im Sohn«, hat weder Anfang noch Ende. Wenn man von einem Anfang spricht, meint man die Zeit des Erscheinens der Offenbarung; und die Zeit ihres Schweigens wird symbolisch mit dem Schlaf verglichen. Nehmen wir als Beispiel einen Mann, der schläft. In dem Augenblick, wo er zu sprechen anfängt, ist er wach - aber es ist immer derselbe Mensch, ob er schläft oder wacht; seine Stellung, seine Würde, seine Ehre, seine Wirklichkeit oder seine Natur haben sich nicht verändert. Der Zustand des Schweigens wird mit dem Schlaf und der des Offenbarens mit dem Wachsein verglichen. Der Mensch ist derselbe, ob er schläft oder wacht; Schlaf ist ein Zustand und Wachsein ein anderer. Die Zeit des Schweigens wird mit dem Schlaf verglichen und die Offenbarung und Rechtleitung mit dem Wachsein.
Im Evangelium heißt es: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott.« So ist es also klar und offenkundig, daß Christus die Stufe des Messias und ihre Vollkommenheiten nicht erst zur Zeit der Taufe, als der Heilige Geist in Gestalt einer Taube auf Ihn herabkam, erreichte. Denn das Wort Gottes war von aller Ewigkeit auf der Höhe der Heiligkeit und wird es immer sein.
aus Abdu'l-Baha, Beantwortete Fragen